Solidarität und Demokratie für die Pflegeberufe bleiben auf der Strecke. Auch die Transparenz der Arbeitsbedingungen.
In den vergangenen Jahren wurde immer intensiver über die Beschäftigungsbedingungen der in der Pflege Tätigen diskutiert. Die Diskussionen gingen dabei über die Fläche. Viele Menschen, Betroffene beider Seiten, Angehörige, Sozialverbände und last but not least die Bundesregierung über das Gesundheitsministerium kamen miteinander ins Gespräch. Mit dem Ziel, sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Lebensbedingungen aller am Prozess Beteiligten nachhaltig zu vereinheitlichen. Sowohl in den täglichen Arbeitsstrukturen als auch in den Entgeltstrukturen. Konkurrierendes Verhalten zwischen den verschiedenen Trägern von z. B. stationären Einrichtungen sollte beendet werden, mindestens zum Schutz derer, die der Versorgung und Unterstützung dringend bedürfen. Aus stetiger Fluktuation und Überlastung sollen Verstetigung und Lebensqualität, Vereinbarkeit mit Familie und Beruf werden. Die Entscheidung für eine Einrichtung / einen Arbeitgeber sollte über die Qualität getroffen werden.
Ein kleiner Ausflug in Statistik:
Die Anzahl der zu Versorgenden in steigt ständig. Allein von 2009 bis 2013 verzeichnete sich ein Anstieg um 9% von 2.3 Millionen auf 2.6 Millionen Menschen. Im Jahr 2015 waren es schon 2.86 Millionen Menschen. Diese Menschen werden 2015 neben der häuslichen Versorgung in 13.596 teilstationären und stationären Einrichtungen versorgt. Der Anteil privater Träger betrug zu diesem Zeitpunkt 42%, der öffentlichen Träger 5% und 53% der Pflege organisierten freigemeinnützige Träger. 2015 waren ca. 735.145 Menschen in der Pflege beschäftigt.1
In Deutschland sind heute ca. 1.1 Millionen Menschen in der Altenpflege- und Krankenpflege beschäftigt.2 Sie versorgen ca. 2 Millionen Menschen in der Häuslichkeit und im Stationären. Weitere 2 Millionen Pflegebedürftige leben noch zu Hause und werden durch ihre Angehörigen versorgt.3
- 42% der 1.1 Millionen Beschäftigten (= 462.000) sind angestellt bei privaten Trägern (Pflegeketten wie Casa Reha, Curanum und auch Einzelunternehmungen im Wohnort / Landkreis),
- 5% der 1.1 Millionen Beschäftigten (=55.000) sind angestellt bei öffentlichen Trägern und
- 53% der 1.1 Millionen Beschäftigten (=583.000) sind angestellt bei freigemeinnützigen Trägern (AWO, Caritas, Diakonie, Paritäter etc.).
- 70.000 Beschäftigte lassen sich gewerkschaftlich vertreten
- 300.000 Beschäftigte werden über den Dritten Weg der Kirchen automatisch vertreten.
Gegen einen flächendeckenden und somit allgemeinverbindlichen Pflegetarifvertrag stimmten als erstes die Verbandsvertretungen der privaten Anbieter. Es wurde bestätigt, dass die gewerkschaftlich Vertretenen um einen Flächentarifvertrag in Verhandlung treten dürfen. Die erste Hürde wart genommen.
In den Kirchen Deutschlands lag zur Zustimmung die zweite Hürde, denn jede Kirche selbst muss dem Beitritt zur Verhandlung zustimmen. Die katholische Kirche teilt mit, sich in der Beratung des Gremiums Dritter Weg gegen den Flächen-tarifvertrag entschieden hat. Man erwarte eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die eigenen Mitarbeiter.4
Mithin veröffentlichte die evangelische Kirche, dass sie sich nicht mit einer eigenen Entscheidung befassen wird, da die katholische Kirche bereits ihre Zustimmung versagt und damit der grund-sätzlichen Fortführung tarifvertraglicher Verhandlung zugunsten aller in der Pflege Beschäftigten versagt ist. Sie hat sich somit sogar ohne Widerstand der Entscheidung der katholischen Kirche unterworfen.
Gerade in den Trägerschaften ohne verbindliche Vergütungsordnungen oder Tarifverträge bleiben sich die Pflegemitarbeiter*innen in den Verhandlungen mit den Arbeitgebern selbst überlassen. Sie verhandeln allein mit den Vertretern der Arbeitgeber über das monatliche Salär, die Menge Urlaub, Vereinbarungen zum Thema Kranksein, Zusatzleistungen für Familie etc. Lediglich an Pflegemindestlohn und –urlaub sind alle Träger gebunden.
Was nun aber treibt die (katholische) Kirche um, sich gegen eine gesamtgesellschaftliche verbindliche Vereinbarung zugunsten eines ersten Schritts des notwendigen Wertewandels in der Pflege zu stellen?
Die kapitalistische Gesellschaft basiert auf einer säkularen Ausrichtung. Glauben ist Privatsache. So darf jeder seinem Glauben nachgehen. Die Organisation Kirche organisiert die Interessen der jeweils Gläubigen. Aus der historischen Entwicklung unserer Gesellschaft heraus haben die Kirchen und deren Wohlfahrtsverbände als Arbeitgeber und selbst als Marktteilnehmer Sonderstellungen.
In der hiesigen demokratischen Gesellschaftsordnung ist festzustellen, dass Kirchen noch immer einen großen Einfluss auf Politik, Staatsstruktur und Gesellschaftsordnung haben. Nach wie vor verfügt die Kirche über gesonderte arbeitsrechtliche Regelungen. So dürfen z. B. die Entgelte für in der Kirche Beschäftigte über den Regelungen des TVöD liegen. Keinem anderen Träger wird das Überschreiten dieser Regelungen refinanziert.
Konfessionell nicht gebundene Wohlfahrtsverbände jedoch gewinnen durch ihr Handeln, ihren Umgang mit Menschen und Ressourcen, die Ideen der Weiterentwicklung von Gesellschaft und damit der weiteren Unabhängigkeit von Menschen durch Zugang zu Bildungswegen mehr Einfluss. Gerade sie stehen intensiv für die Menschen ein, für deren Zukunft und Wertevorstellungen. Sie stehen für Transparenz und Solidarität, für Hilfe zur Selbsthilfe. Nunmehr kapert mindestens die katholische Kirche die Philosophie zur Veränderung der Pflege und Verbesserung der Beschäftigungs- und Lebensbedingungen für alle. Stellt sich klar gegen Transparenz & Solidarität. Sie zeigt Ihre noch immerwährende Macht im Staat.
Kirchen als Betriebe, die das Gläubig Sein und entsprechendes Handeln ihrer Mitarbeitenden fordern und sanktionieren dürfen, sind als sog. Tendenzbetriebe von inzwischen gesellschaftlichen Standards, wie Mitarbeitervertretungen gem. Betriebsverfassungsgesetz, der Koalitionsfreiheit, der Meinungsfreiheit befreit. Gesellschaften, in denen diese Grundrechte fehlen, werden in der Regel als autoritär betitelt.
Die Kirche ist ein Tendenzbetrieb, dessen Orientierung nicht auf dem Gewinn, sondern auf ideellen & politischen und z. T. wissenschaftlichen Vorstellungen und Bestimmungen ruht, denen durch die Unternehmenstätigkeit gedient werden soll. Worin sich jedoch der theologische Ansatz einer Pflegeeinrichtung schützenswerter als der der konfessionell ungebundenen Träger erweist, ist in all den vergangenen Jahren nicht deutlich geworden.
Gremien, wie z. B. Betriebs- und Personalräte, nach Betriebsverfassungsgesetzt sind in wesentlichen Punkten von der Mitbestimmung teilweise komplett ausgeschlossen. Der Zweck dieser Einschränkung ist es, die Tendenzunternehmen und Tendenzbetriebe in der Ausübung ihrer Grundrechte (z.B. der Presse- und Religionsfreiheit sowie der Freiheit von Kunst und Wissenschaft) von einer ernsthaften Beeinträchtigung durch betriebsverfassungsrechtliche Einflüsse freizuhalten (BAG v. 7.11.1975 – 1 AZR 282/74).
Die tendenzgeschützten Zwecke müssen in dem Betrieb/Unternehmen unmittelbar und überwiegend verfolgt werden. Somit kann die Beteiligung des o.g. Gremiums bei Kündigungen oder auch Veränderung von Entgeltstrukturen grundsätzlich entfallen, gleiches gilt z. B. bei Personalfragebögen, die nach der politischen u/o konfessionellen Ausrichtung des Mitarbeiters Auskunft verlangen. Bei Betriebsänderungen gelten die §§ 111 bis 113 BetrVG nur insoweit, als sie den Ausgleich oder die Milderung wirtschaftlicher Nachteile für die von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer regeln (§ 118 Abs. 1 S. 2 BetrVG).
Kirchen als Betriebe, die das Gläubig Sein und entsprechendes Handeln ihrer Mitarbeitenden fordern und sanktionieren dürfen, sind als sog. Tendenzbetriebe von inzwischen gesellschaftlichen Standards, wie Mitarbeitervertretungen gem. Betriebsverfassungsgesetz, der Koalitionsfreiheit, der Meinungsfreiheit befreit. Gesellschaften, in denen diese Grundrechte fehlen, werden in der Regel als autoritär betitelt.
Weiterhin bleibt somit der Einzelne abhängig von ideologischer Ansicht und dem Bild vom Sein, dem Wollen und Machtwillen von Kirche. Solidarität und Kirche, Demokratie und Kirche, Transparenz und Kirche scheinen keinen Weg zueinander zu finden, da augenscheinlich weder der Abgleich von Interessenslagen noch möglichen Kompromissen stattfindet.
Ein nicht nachvollziehbarer auch nicht zu tolerierender Prozess in einer demokratischen Wertegemeinschaft.
Die Funktion von Kirche in Deutschland muss dringend überdacht werden. Auch zugunsten von bis zu 900.000 nicht bei der Kirche beschäftigten Pflegekräften. Während die Arbeiterbewegung auf die Solidarität der Arbeit Nehmenden und damit auf eine gemeinsame Vertretungsmacht setzt, verbleiben die Kirchen in der individualisierten „Nächstenliebe“. Als Ergebnis bleibt die gezielte Individualisierung sozialer Interessen. Die Arbeit Gebenden treten mit ihrer ökonomischen Macht den Arbeit Nehmenden, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um den Lebensunterhalt dauerhaft verdienen und als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft gelten, gegenüber. Diese asymmetrische Machtverteilung steckt in der Vorstellung des kirchlichen Modells des „Dritten Weges“. Dieser soll erhalten bleiben, daher wird die Beteiligung an einem Pflegetarifvertrag ausgeschlossen.
Das Argument, die zzt. bessergestellten Beschäftigten der konfessionell gebundenen Wohlfahrtspflegeverbände würden verlieren, wird aus ideologischen Gründen, zur Aufrechterhaltung der bestehenden Machtverhältnisse oder in Unkenntnis der arbeitsrechtlichen Realität vorgetragen. Es ist definitiv und höchstrichterlich geurteilt: Tarifverträge beschreiben lediglich Mindestbedingungen des Beschäftigungsverhältnisses.
Herzlichst Ihre
Anke Schleritt
Stellv. Vorsitzende OV & Mitglied des SR WES QLB
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1 Berufsgenossenschaft f. Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Altenpflege in Deutschland. Ein Datenbericht 2018.
2 Bundesministerium für Gesundheit
3 Destatis.de Stand 15.12.2020
4 „Die Kirche macht nicht mit“, Artikel der Zeitschrift Zeit vom 25.02.2021